Okt 302012
 

Ein Rentnerpärchen steigt langsam vor mir die Treppe hinab zum U-Bahnhof.
Ich, ganz gehetzter Großstädter, will sie überholen. Einem Impuls folgend bremse ich mich aber und bleibe seitlich eine Stufe über ihnen. Ich betrachte sie.
Eigentlich nix besonderes an ihnen, alte Leute eben. Ich mag ja alte Menschen, sie sind so detailreich. Äußerlich wie innerlich.
Der Bahnsteig rückt in Sicht und sie bleiben abrupt auf mitten auf der Treppe stehen. Das mag ich wiederrum nicht, aber ich laufe ja grad nicht hinter ihnen. Allerdings haben nicht nur alte Leute diesen Trick drauf einfach ohne Rücksicht stehen zu bleiben, mit Vorliebe in im Fluss befindlichen Menschenmassen.
Bleibe neben ihnen stehen und folge ihrem Blick.
Die Frau fragt den Mann: „Und? Wie lange?“
Beide kneifen die Augen zusammen und probieren krampfhaft die Anzeigetafel zu entziffern. „Kann ich nicht richtig erkennen, 8, 6, 25 oder so…“
Ich kann auch nur raten. Nicht weil meine Augen so schlecht sind, sondern weil die Tafel einfach noch viel zu weit weg ist.
Wohlgemerkt, wir stehen ja auch noch am Eingang. Die beiden müssten sowieso auf den Bahnhof rauflaufen und hätten bequem in lesbarer Entfernung zur Anzeigetafel stehen bleiben können.
Die beiden schienen mir wie von Loriot erdacht.
Minutenlang probieren sie auf unterschiedlichste Art und Weise die Anzeige zu lesen und brabbeln dabei stetig ihre Vermutungen vor sich hin. Einfach mal näher ranzugehen schien ihnen nicht in den Sinn zu kommen. Sind sie dement oder verfolgen sie damit einen bestimmten Zweck?
Ein selbst auferlegter Augentest vielleicht? Oder vom Arzt verschriebenes Training? Vielleicht hat er zu ihnen eingebläut, sie sollen es sich bloß nicht zu leicht machen, denn das schwäche die Augen nur noch weiter.
Der Mann ließ ein langgezogenen „Mhhhhhhhh…“ vernehmen, sie schauen sich kurz ratlos an und setzen ihren Weg fort. Doch als sie dann endlich auf dem Bahnsteig stehen, versuchen sie nicht noch einmal die Anzeigetafel zu lesen. Sie setzen sich einfach hin und warten.
Dabei beobachten sie ständig die an ihnen vorbeilaufenden Leute und tuscheln sehr laut was sie von ihnen halten.
„Guck dir mal die an. Wie kann man nur so was tragen?“, flüstert die Frau laut vernehmlich zu ihrem Mann.
Gemeint ist eine nicht nur etwas kräftigere Frau in einem Babydoll, der sie nur noch dicker aussehen lässt. Alte Menschen sind schon wunderlich manchmal.
Ich glaube ich mag die beiden und setze mich neben sie.
„Wann kommt die Bahn?“, frage ich. „Ich hab nämlich heut meine Brille nicht dabei, müssen sie wissen.“
„So müssen wir das?“, lässt sich der alte Mann vernehmen, lächelt dann aber sofort freundlich. Die Frau kichert, gibt ihrem Mann ein Klaps auf den Oberschenkel und lächelt mich an.
„Lass doch den jungen Mann… Aber hören sie, da fragen sie ausgerechnet die ältesten Leute hier auf dem Bahnsteig wann die Bahn kommt?“
„Ohh…naja, wie gesagt ich hab meine Brille nicht auf.“ Wir lachen alle drei.
„Was bringt es ihnen das zu wissen?“, fragt der Mann.
„Nun…damit ich weiß wie lange ich noch warten muss“, antworte ich mechanisch und beginne selbst mir über die Frage Gedanken zu machen.
„Aber was bringt ihnen das? Davon kommt die Bahn auch nicht schneller. Sie kommt wann sie kommt“, erwidert er mit schelmisch nach oben gezogenem Mundwinkel, was ein ziemliches Zerwürfnis im Detailreichtum seiner rechten Gesichtshälfte auslöst.
Die Frau wiederholt Kichern, Klaps und Lächeln in so exakter Weise wie vorhin das ich ein Déjà-vu erlebe.
„Ach lass doch den jungen Mann. Vielleicht will er sich ja nur noch schnell ein Kaffee holen oder die Wartezeit anderweitig nutzen.“
Der Alte grunzte lediglich ein Mhh.
Aber ich wollte tatsächlich einfach nur auf dem Bahnsteig auf die Bahn warten. Und da hat der Alte schon recht. Was bringt es mir da zu wissen wann die Bahn kommt? Überhaupt diese ganzen ‚Wie viel Zeit noch bis…‘-Fragen und Gedanken. Wozu? Macht doch…die Frau reißt mich aus meinen Grübeleien:
„Wo haben sie denn ihre Brille gelassen?“
„Meine was?…Ach so…ja wenn ich das nur wüsste.“
„Das kenn ich, passierte mir auch oft. Aber jetzt trag ich sie immer an einer Kette um den Hals“, erwidert sie und ihr Mann wirft sofort lachend ein:
„Ja, und selbst da sucht sie sie manchmal noch ewig.“
Wir schweigen bis die Bahn kommt.
„Die Bahn kommt“, sagt der Mann.
„Danke, hören kann ich ja noch“, feixe ich.
Die Frau wiederholt ein drittes Mal Kichern, Klaps und Lächeln, diesmal aber bei mir und sagt an mich gerichtet mit derselben Intonierung: „Ach, lass ihn.“
Wir steigen zusammen in die Bahn und setzen uns auf eine dieser 3er Sitzbänke mit dem Rücken zur Außenwand.
„Huch!“, erschrickt sich die Frau als der Zug etwas ruppig anfährt, sie über die Bank rutscht und es uns drei enger zusammenschiebt als mir lieb ist.
Warum riecht das Rasierwasser von alten Männern eigentlich immer gleich?
„Darf ich fragen wo sie hinfahren?“
„Ja dürfen sie“, antwortet er schlicht.
Die Frau sorgt nun pflichtgemäß für das 4. Déjà-vu. Offenbar hat sich dieses Verhalten Jahrzehnte lang bei ihr eingeprägt, kein Wunder wenn ihr Mann schon immer so war.
Die U-Bahn rauscht durch den Tunnel. Ob da wohl noch was kommt?
Nach einer Minute frage ich erneut…obwohl, genaugenommen zum ersten Mal:
„Ähhm, wo fahren sie hin?“
„Zum Bestattungsinstitut“, antwortet er.
„Oh das tut mir leid“, entfährt es mir reflexartig.
„Warum? Noch ist ja niemand tot und selbst wenn, was könnten sie dafür?“
Déjà-vu Nummer 5.
Wobei er auch diesmal wieder irgendwie recht hat. Warum will man sich automatisch für Dinge entschuldigen für die man eigentlich gar nichts kann?
Doch wieder lassen mir die Zwei keine weitere Sinnierzeit.
„Aber bevor es ihnen wieder leidtun muss zu fragen, wir wollen lediglich alle Formalitäten klären für unser Ableben. Wir möchten das nämlich gern alles selbst entscheiden. Die Familie macht doch eh nur trauerverklärten Unfug mit uns!“, sagt er aufgebracht.
Sie ergänzt: „Wir wollen verbrannt werden und dann zusammen in eine Transporturne. Romantisch, nicht wahr?“
„Und spart Geld“, flüstert er mir zu.
Vermutlich auch besser so, auf dem Friedhof verrottet man ja eh nicht mehr. Der Boden ist wegen den ganzen Verwesungsprozessen zu sauer, das ist schlecht für die Bakterien und der Verfall dauert immer länger. Mich gruselt die Vorstellung, dass man durch die auf einen Zeitraum begrenzte Platzmiete nur eine bestimmte Zeit zum Verwesen hat. Quasi eine Verwesungsdeadline.
Und ich war ja noch nie sonderlich pünktlich. Dann wird mein Sarg nach 20 Jahren ausgebuddelt und ich bin noch so gut wie neutot. Vermutlich werd ich dann doch verbrannt oder aus Geldmangel verkauft mich meine Familie an Körperwelten und meine teure Kiste kommt aufpoliert zu den Gebrauchtsärgen. Nein Danke!
„Eine Transporturne? Also wollen sie das irgendwas mit ihrer Asche passiert?“
„Naja, ich will ja als Dünger ins Rosenbeet…aber mein Mann würde lieber in den Hibiskus.“
Ich muss lachen.
Beide lachen mit und er fügt noch hinzu:
„Was denn, was denn? So sind wir doch wenigstens nicht umsonst gestorben!“
Einfach super! Alle suchen nach dem Sinn am Lebensende und für die beiden ist es als Dünger in ihren Beeten zu landen. Nicht mal aus Glaubensgründen, weil sie denken sie würden in den Pflanzen weiterleben oder so, nee, einfach nur aus purem Pragmatismus. Irgendwie ja ein sehr ursprünglicher Gedanke. Asche zu…ja schon klar. Aber stimmt schon, der Kreislauf und so. Alles ist eins.
Ich glaub das mach ich auch so. Aber noch besser in den Kompost um dann im nächsten Frühjahr in alle Beete eingebettet zu werden.
Ich finde die beiden äußerst erfrischend.
Erstaunlich wie lässig sie mit dem Tod umgehen. Aber warum auch nicht?
Menschen sterben, Dinge gehen kaputt. So ist das nun mal. Angst davor und Trauer danach ändern da nichts dran. Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann würde ich nicht wollen, dass man um mich trauert. Ich mag es nicht Leute unglücklich zu machen. Da wird testamentarisch eine dicke Party angeordnet und alle dürfen sich gerne erinnern, aber nicht trauern!
In unserer Kultur leider schwer umsetzbar, aber trotzdem ein schöner Gedanke.
Erzähle den beiden davon.
Sie denken kurz darüber nach, dann erwidert der Mann:
„Das ist wirklich ein gute Idee Junge, aber vermutlich hält sich da eh keiner dran. Vielleicht sollte man einfach anordnen, dass Lachgas über die Belüftungsanlage in den Raum geleitet wird. So hätten sie zumindest während der Feier ihren Spaß.“ Beide lachen herzerfrischend laut und ehrlich.
Dann sagt er einen Satz an den ich noch lange denken werde:
„Der Tod ist die Pointe im Witz des Lebens. Und wenn der Witz gut war, lacht man auch bei der Pointe. So is das!“
Tja…so ist das. Was sollte man dazu noch groß sagen?

  2 Responses to “Menschen sterben, Dinge gehen kaputt”

  1. Schöne Momentaufnahme einer alltäglichen und doch eher selten gewordenen Situation – „Alt“ trifft auf „Jung“ bzw. umgekehrt! Ich liebe diese Gedankenwechsel zwischen den Generationen, denn beide können was voneinander lernen.

    Bin jetzt fast 60 und muss immer mehr Freunde aufgrund ihres Ablebens loslassen. Das ist eine unabwendbare Sache, je älter man wird, weil eben doch alles „endlich“ ist und dem ultimativen Ableben physisch kein Schnippchen geschlagen werden kann. Und wenn ich dann über den eigenen Tod nachdenke, komme ich zu folgendem Schluss: Würde ich nach dem Schreiben dieses Kommentars sterben, kann ich mit einem Lächeln „gehen“, denn ich habe in meinem Leben bereits soviele Pointen wie kaum ein anderer erlebt. Warum? Ganz einfach: weil mein Dasein nicht wie bei vielen meiner Mitbürger am Gartenzaun des eigenen Grundstücks endete, sondern ich mich über den eigenen Tellerrand hinausgewagt habe, bis nach Indien, Amerika und Südeuropa. Alles hat natürlich so seinen Preis, ich bin z.B. dadurch nicht reich im monetären Sinne geworden. Aber reich an Erlebnissen und Erfahrungen – und das war mein „Lodder“-Leben echt wert und hat mich innerlich „reich“ gemacht. Insofern kann ich also jederzeit mit einem Lächeln auf den Lippen „gehen“…
    Danke für diesen schönen Text,

    Sim

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