Apr 072015
 

Leseprobe aus Waschbär im Schlafrock

Wissenswertes: Toni ist der sagenumwobene Waschbär von Karl, unserem Hauptcharakter, und Paul ist Lokalpolitiker und Freund von Karl. (Man merkt ich hab es nicht so mit ausgefallenen Namen ^^)

 

Den restlichen Abend ist uns nicht so recht nach Reden zumute und wir trinken uns lediglich stillschweigend durch einige Bars.
Als ich aufwache, ist es schon 14 Uhr.
Ich spüre eine Präsenz neben mir im Bett. Es ist Paul. Er ist nackt!
Zumindest denke ich das eine Schrecksekunde lang, ist dann aber doch nicht so. Puh, noch mal Glück gehabt!
Wie man plötzlich überall vom Fernsehen vorgaukelte Realitäten zu sehen glaubt. Der fließende Übergang von Reality-TV zu TV-Reality.
Ich versuche, mich krampfhaft zu entsinnen, was letzte Nacht los war. Gespräch, trinken, schweigen, Wortfetzen, trinken, bisschen brechen, weiter trinken, endlose Leere.
Warum muss der moderne Mensch seine Probleme immer in Alkohol ertränken?
Ich frage mich manchmal, was wohl passiert wäre, wenn Alkohol nicht entdeckt worden wäre und auch sonst keine Droge, mit der man vermeintlich vor seinen Ängsten und Problemen fliehen kann. Ob dann die Selbstmordrate höher wäre? Oder würden dann alle einfach mit ihren Problemen klarkommen oder sogar versuchen, sie zu lösen?
Sollte ich vielleicht auch mal ausprobieren. Bin ja auch nicht mehr der Jüngste und der Schädel danach ist wesentlich schlimmer als noch vor ein paar Jahren, obwohl ich schon mit dem Rauchen aufgehört habe. Oh man, viel zu dolle Kopfschmerzen für solche Gedanken!
Schüttle den Kopf, um nicht mehr nachdenken zu müssen. Gehirn klatscht mehrfach schmerzvoll gegen Schädelwand. Trägt nicht gerade zur Besserung meiner Kopfschmerzen bei. Aber zumindest vergesse ich über den Schmerzen tatsächlich das Nachdenken.
Versuche Paul zu wecken. Sein Handrücken rast ziemlich langsam auf mein Gesicht zu. Mein immer noch ausklingendes Delirium macht ein Ausweichen undenkbar. Ich nehme die lustlos ausgeführte Ohrfeige einfach hin und lasse das Prinzesschen noch etwas weiter schlafen.
Toni sitzt auf dem Kleiderschrank und starrt mich an. Er hat sich da oben aus meinen Sachen, die im Zimmer verstreut lagen, ein Nest gebaut. Ich glaube, bei Waschbären nennt man das zwar nicht Nest, aber das ist mir grad völlig egal. Ich wunderte mich schon warum mir im Laufe der Zeit immer mehr Socken und Unterhosen fehlten.
Selbst ganze T-Shirts verbaute er und auch ein paar halbe, die er offenbar nicht komplett benötigte und die abgerissen Stücke einfach wieder runterwarf. Großzügig überließ ich ihm alle geraubten Kleidungsstücke und nahm ihm nichts wieder weg, denn erstens waren sie jetzt eh teilweise zerfetzt und zweitens hatte ein Waschbär darin geschlafen. Für mich habe ich einfach ein paar neue gebrauchte Sachen gekauft. Ich lege keinen Wert auf aktuelle Mode und bei gebrauchter Kleidung sind wenigstens schon die ganzen Herstellungschemikalien ausgewaschen. Außerdem würde beim jüngsten Gericht der Vorbesitzer die Hauptschuld für die ganzen Umweltschäden und die Arbeitsbedingungen in den Billiglohnländern auf sich nehmen müssen und ich muss dann nur noch für einen Bruchteil davon brutzeln.
Als Toni meine in Gedanken versunkene Bewegungslosigkeit offenbar zu langweilig wird wirft er eine halbe Unterhose runter. Gut, dann eben aufstehen.
„Na komm runter da, essen.“ Toni springt auf meinen Rücken. Es lässt mich immer noch zusammenzucken, wenn er das macht. So gehen wir in die Küche. Ich bin immer wieder erstaunt über Toni. Entweder er ist wirklich sehr intelligent und lernt schnell, was ich ihm mitteilen will, wenn ich dies oder das sage, oder… ja keine Ahnung. Gedankenlesende Waschbären? Geheime Forschungen? Menschliche Geister in Tierkörpern eingesperrt? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist Toni schon ein erstaunliches Tier. Gut, er ist der einzige Waschbär, den ich kenne, also weiß ich nicht, ob er auch unter seinen Artgenossen etwas Besonderes ist, aber ich bin froh, dass er bei mir aufgetaucht ist. Vielleicht war es ja Schicksal. Och nee, nicht schon wieder ein Schlagwort, was zu ewigem Nachdenken führt!
Lieber schnell Frühstück machen. Gucke in den Kühlschrank. Von dem Zeug da krieg ich doch garantiert nichts runter. Ich hole Toni was zu essen raus und setze mir einen Kaffee auf. Knabbere währenddessen etwas Zwieback und trinke etwa einen Liter Wasser. Ahh! Wasser ist gut! Ich nehme mir ja jedes Mal vor, auch während ich Alkohol konsumiere, ab und zu ein Glas Wasser zu trinken, aber irgendwie vergesse ich das dann immer wieder.
„Nach dem Glas trink ich erst mal ’n Wasser… nach dem… aber bestimmt nach diesem… jetzt muss ich aber mal… naja, genau genommen is‘ da ja auch Wasser drin…“
Paul kommt in die Küche gewatschelt. Ein herrliches Bild für jedes Wahlplakat. Darunter der Spruch: „Ich bin wie ihr!“
„Guten Morgen, Schatz, Kaffee?“, grüße ich ihn mit zuckersüß hoher Stimme. Seine darauffolgende Geste wäre wiederum nichts für das Wahlplakat. (Autorenanmerkung: Das Buch hab ich noch vor Steinbrück Stinkefingeraffäre geschrieben)
„War denn wenigstens noch eine Frau mit im Bett?“, fragt er nach einer halben Tasse Kaffee.
„Es war zumindest keine da, als ich aufgewacht bin. Also wenn sie uns nicht beklaut und kompromittierende Aufnahmen gemacht hat, als wir beide schliefen, und dann abgehauen ist… vermutlich nicht.“
„Gott, wie armselig ist das denn?“, sinnierte Paul. Ich mache mir jetzt mal nicht die Mühe, darauf zu antworten. Komischerweise fühle ich mich durch seine Aussage aber doch etwas gekränkt.
Wieder sitzen wir schweigend da. Wieder trinkend.
Was soll daraus nur noch werden?

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