Dez 222015
 

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Anmerkung:
Ich warne Sie nur schon mal vor: In dieser Geschichte habe ich den schriftstellerischen Witz von Fußnoten* entdeckt. Wer meine sonstigen Gedankenausschweifungen, Schachtelsätze und Klammer-in-Klammer-in-Klammer-Sätze kennt, bekommt nun Angst**. Zu Recht…vielleicht.
Ich entschuldige mich schon mal bei all meinen jetzigen und zukünftigen Lektoren.

„Gott verdammt! Was ist denn mit ihnen passiert?“, fragte der Schankwirt. Es ist eine dieser Phrasen, die wohl schon so tief im Kollektivgedächtnis verankert sind, dass sich viele nicht einmal mehr Gedanken darüber machen. Bei dieser speziellen Phrase beispielsweise keinen Gedanken daran verschwenden, dass derjenige, dem diese Phrase gilt, aufgrund seines momentanen Zustandes, weshalb ihm ja überhaupt erst diese Phrase angedeiht, doch wohl kaum die Lust verspürt diese zu beantworten. Manchmal vielleicht auch gar nicht dazu in der Lage ist. Ja, oft nicht mal selber über die Unsinnigkeit nachdenken kann und deshalb bei nächster Gelegenheit dann auch instinktiv eben jene Worte gebraucht, um auf jemanden in erschreckend desolatem Zustand zu reagieren, der plötzlich irgendwo auftaucht. Diese Gedanken machte sich der Wirt allerdings nicht.
Der Ausruf galt einem dürren, alten und sehr zerzaust aussehenden Mann, der eben durch die Wand herein kam***.
„Drauß vom Walde komm iiiiiccccc….“, krächzte der Mann mit hohler Stimme, verdrehte die Augen und kippte dann einfach zur Seite um.
Normalerweise kümmern sich sofort einige Gäste fürsorglich um kollabierte Wanderer, die sich offenbar schlichtweg überanstrengt hatten. Leider verirrte sich bei diesem nasskalten Wetter keiner in das kleine beschauliche Lokal, an dem sich die Wanderrouten roter-Strich-grüner-Strich-roter-Strich und blauer-Strich-grüner-Strich kreuzten. Die Farben sind aber auch echt schwer zu erkennen bei der neblig trüben Suppe da draußen.
Bevor der Wirt das allerdings vollends realisiert hatte und der Gedanke sich nun wohl oder übel selbst darum kümmern zu müssen in sein Bewusstsein drang, um dort auf baldige**** Umsetzung zu pochen, rührte sich der Mann auf dem Boden schon wieder und kroch zu einem Hocker am Tresen.
Nach dem ersten spontanen Ausruf konnte sich der Wirt das nun obligatorische „Alles OK?“ natürlich ebenso wenig verkneifen.
Der Alte stöhnte leise und zog sich unter leisem Ächzen an einem der in die Jahre gekommenen Hocker am Tresen des Jägerlokals hoch. Jäger gab es hier schon lange nicht mehr, aber viele Wanderer. In einem kurz aufblitzenden Gedanken fragte sich der Wirt wie viel weniger Wanderer sein Lokal wohl besuchen bzw. erreichen würden, wenn es wieder mehr Jäger gäbe. Aber er hasste Mathematiksachaufgaben.
Der Wirt beobachtete weiterhin erstarrt wie ein Halbrund kurzer, dünner, wirrer, weißer Haare auf pergamentweißer Kopfhaut voller Altersflecken über dem Tresenhorizont aufging. Ein kurzer Vollbart, der die eingefallenen Wangen zierte, kam ebenfalls in Sicht. Einige Nadeln und kleine Zweige hingen darin.
Aber das war es gar nicht was den Wirt zu seinem erschrockenen ersten Ausruf hingerissen hatte.
Der Alte schob sich auf den Hocker, beide wackelten und knackten bedenklich, was eine Art Ausgleich zu schaffen schien und dafür sorgte, dass keiner von beiden umkippte oder zusammenbrach.
Kurze Verschnaufpause, dann begann er mit einer brüchigen, trockenen Stimme zu sprechen, die so klang wie das Rieseln von Nadeln beim Abschmücken des Weihnachtsbaums kurz vor Ostern:
„Warmes Wasser…mit Zitrone…ein Glas Sherry…und…und einen Apfelstrudel…pur, ohne Tamtam…bitte.“
Dabei wurde er immer leiser und sein Kopf sank immer weiter nach vorn bis er dem Tresenholz schon gefährlich nah war. Er zuckte hoch, wie jemand dessen Unterbewusstsein grade bemerkt hat, dass sein Körper in der Bahn eingeschlafen ist und die Schulter vom Sitznachbarn vollgesabbert hat. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen, unter denen sich einst offenbar prallgefüllte, dunkle Tränensäcke in Falten warfen, irrten kurz hin und her bis sie schließlich die des Wirtes fanden, der ihn immer noch entsetzt anstarrte.
Er fixierte ihn, hustete trocken auf und krächzte dann:
„Der Strudel ist doch hausgemacht, oder?!“
Der beleibte Mittfünfziger hinter der Theke blinzelte ein paarmal und löste sich endlich aus seiner Starre.
„Ähh, ja…ja…meine Mutter macht…“, er starb ab und beschloss es sei wohl das Beste dem Mann erst mal zu geben wonach er verlangte und sei es nur um selbst beschäftigt zu sein und nicht mehr über sein Erscheinungsbild und die Gründe dafür nachdenken zu müssen.
Z.B. die vielen blutigen oder zumindest roten Kratzer in der alten, blassen, faltigen Haut, die unnatürlich dunkelgrün leuchtenden Augen, die man nicht lange anschauen konnte ohne den Drang zu verspüren sich ein Tau um die Taille zu binden und es an was möglichst stabilem fest zu machen***** oder die halb zerfetzte Insassenkluft der 10km entfernten Nervenheilanstalt.

Mit jedem Schluck des Zitronentees kehrte offenbar mehr Lebenskraft in den Alten zurück. Zumindest erhielten seine aschfahlen Wangen etwas mehr Farbe.
„Wirklich kein Vanilleeis zu dem Strudel?“, fragte der Wirt nur um die Stille zu füllen. Denn das Schlürfen und gelegentliche Schnaufen des Mannes machte die Stille nur noch stiller als sie ohnehin schon war.
„Bähh!“, rief der Alte aus.
„Woher kommt das eigentlich? Hat vermutlich damit begonnen, dass alle ihren Strudel fertig ausm Tiefkühlfach nehmen und dann denken ‚Oh, dann nehm ich doch auch gleich noch Eis mit.‘.“ Seine Stimme klang immer noch krächzend, vielleicht auch quäkend, schwer zu beschreiben, sehr alt auf jeden Fall. Solche Stimmen proklamieren in der Regel Pauschalaussagen, in denen Wörter wie ‚früher‘, ‚besser‘, ‚damals‘, ‚Jugend‘, ‚heute‘ und ‚teurer‘ wichtige Schlüsselfunktionen einnehmen.
„Naja, ich denke, das hat was mit diesem kalten und heißen Mundgefühl zu tun. Die Gegensätze, verstehen Sie? Ist ein Gaumenkitzler quasi.“ Der Wirt hatte gestern eine Kochsendung gesehen und war nun ein wenig stolz auf sich.
„Bähh!“
Der Wirt holte den aufgewärmten Strudel aus dem Minibackofen und stellte ihn vor dem Mann ab.
Erst nachdem der die ersten paar Bisse runter hatte, goss er ihm den Sherry ein. Wenn das Klappergestell auf nüchternen Magen trank, kippte es sonst wohlmöglich doch noch aus den Latschen.
„Kompliment…an…die Mutter“, schmatzte der Alte.
„Rosinen könnten…etwas mehr Rum…vertragen…aber sonst…“
„Ähh, danke. Ich geb es weiter.“
„Und ein Teil der Äpfel…vorher…in Karamell anrösten.“
„Ähhm, ja.“
„Und…“
„Ich denke sie hat da ihr Rezept. Tradition. Familienrezept, Sie verstehn?“
„Ah! Naja, an seiner Familie kann man ja bekanntlich nix ändern.“
Der Apfelstrudel hatte seine Existenz inzwischen komplett gewechselt, genauso wie der Sherry, nur etwas Tee war noch in der Form von Tee existent. Allerdings etwas abgekühlt.
„Ähh, kann ich fragen was Ihnen passiert ist?“
„Versuchen Sie’s doch mal.“ Der Alte schaute dem Wirt nun wieder direkt in die Augen. Dessen Unbehagen wuchs. Dieses dunkle Grün war definitiv unheimlich.
„Ähh…was ist Ihnen passiert?“
„Na bitte! Sie können es! Herzlichen Glückwunsch!“ Der Alte reichte ihm die Hand.
„Ähh…“ Der Wirt ergriff sie automatisch. Schlaff, kalt und als er losließ und seine Hand zurücknahm, blieb er ein wenig daran kleben. Instinktive Reaktion ob der unbekannten Flecken auf seiner Hand, roch er daran. Zum Glück nur Baumharz.
„Oh, tut mir leid. Wie gesagt, drauß vom Walde und so“, erklärte der Alte, wirkte dabei aber kein bisschen verlegen und schlürfte weiter seinen Tee.
Zeit verstrich. Dies sei nur erwähnt weil sonst nichts Spannendes****** passierte.
„Ähm, können Sie mir die Frage auch beantworten?“
„Ach so, ich dachte, das sei nur ein sozialer Kommunikationsselbsttest.“
„Ähh, bitte was?“
„Na ein Test ob Sie auch wirklich in der Lage sind mir diese Frage zu stellen.“
„Ähh…“
„An diesem Ähh-Ding sollten Sie aber wirklich arbeiten, sonst wird aus Ihnen, Götter bewahret, noch ein Politiker. Aber gut. Kürzen wir das lieber ab bevor wir hier noch den ganzen Tag sitzen. Ja, ich kann Ihnen die Frage beantworten, ja ich will Ihnen die Frage beantworten, ja ich werde Ihnen die Frage beantworten, wenn sie mir noch einen großen Sherry einschenken, diesmal etwas warm machen bitte und mir noch eine Tasse heiße Zitrone bringen.“ Nach kurzem Rattern setzte sich der Automat namens Wirt in Bewegung. Seinem Bewusstsein war das inzwischen alles zu kompliziert geworden und es hielt sich vorerst aus der Sache raus. Sein Unterbewusstsein hingegen dachte: Einfach tun was er sagt, dann wird irgendwann alles wieder einen Sinn ergeben und das Leben wieder einfach und langweilig.

Zu Teil 2

* Manche nennen sie auch ‚Diese nervigen Dinger am Seitenende, die einen zwingen im Text runter und rauf zu springen und falls mehrere untereinander stehen, erfasst man automatisch schon die anderen, ein ungewollter Spoiler quasi…ja und wenn man dann wieder in den normalen Text springt, muss man den Satz eh noch mal lesen und…ach so ein unnötiger verdammter Schei…‘

** Ein gesunder Respekt reicht völlig, muss aber auch nicht sein.

*** Eigentlich durch die Tür, aber der Satz klingt so viel spannender, oder?

**** ‚Sofortige Umsetzung‘ verlangt sein Bewusstsein schon lange nicht mehr. Völlig vergebene Liebesmüh.

***** Manche würden wohl von dem Gefühl sprechen in die Augen hineingezogen zu werden oder in die unfassbare Tiefe der wie auch immer darin erkennbaren Seele zu fallen.

****** Wobei genaugenommen verstreichende Zeit ja die Spannung pur ist. Ich meine Huuiiihhh wie die Zeit vergeht, wusch ist sie weg und da kommt sie auch schon wieder um die Ecke, Huuiiihhh! Ohne verstreichende Zeit wäre ja Stillstand. Und still stehen ist auf Dauer doch recht langweilig. Und anstrengend.

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